In dieser Lektion lernen wir die Vergangenheitsform kennen. Die gute Nachricht ist, dass das Gotische nur 2 Tempora (Zeiten) kennt: Präsens (Gegenwart) und Präteritum (Vergangenheit). Ein Futur gibt es nicht. Es wird meist durch das Präsens ersetzt, ähnlich wie in der dt. Umgangssprache (Morgen gehe ich ins Kino), aber auch in einigen Fällen durch Hilfsverben. Die schlechte Nachricht ist, dass die Vergangheitsform sehr komplex ist. Die starken Verben bilden die Vergangenheit durch Ablautregeln (wie z. B. im dt. singen - sang - gesungen), die schwachen Verben durch einen Präteritumssuffix (wie z. B. im dt. leben - lebten - gelebt). Daneben gibt es noch einige unregelmäßige Verben.
In dieser Lektion interessieren uns nur die starken Verben. Diese unterteilt man wiederum in ablautende, reduplizierende und reduplizierend-ablautende Verben. Diese werden in folgende 8 Kategorien eingeteilt:
1. Präsensstamm -ei-
I. Ablautreihe: ei - ái - i - ?
In diese Kategorie fallen Verben mit dem Stammvokal -ei-, z. B. beitan oder beidan. Der dritte Ablaut ist der des Partizips, auf den wir später zurückkommen werden. Auf den Akzent wird im folgenden verzichtet. Im Auslaut wird auch hier t zu þ.
beitan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
beitiþ
baiþ
bitun
Übersetzung
er beißt
er biss
sie bissen
Diese Ablautreihe entspricht dem deutschen ei - i(e) - i(e), z. B. treiben - trieb - getrieben. Beachte: Vor h/ƕ wird aus -i- ein -ái-: leiƕan - laiƕ - laiƕun.
2. Präsensstamm -iu-
II. Ablautreihe: iu - áu - u - ?
In diese Kategorie fallen Verben mit dem Stamm -iu-, wie siukan.
siukan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
siukiþ
sauk
sukun
Übersetzung
er erkrankt
er erkrankte
sie erkrankten
Diese Ablautreihe entspricht dem deutschen ü / eu - o - o, z. B. beugen - bog - gebogen oder lügen - log - gelogen. Beachte: Auch hier bleibt der zweite Ablaut vor h/ƕ gleich: tiuhan - táuh - taúhun.
3. Präsensstamm -in-, -il-, -aír-
III. Ablautreihe: i/aí - a - u/aú - ?
In diese Kategorie fallen Verben mit dem Stammvokal -i- oder -aí-, meist gefolgt von einem Doppelkonsonanten. Eine eindeutige Zuordung ist hier aber nicht gegeben, da z. B. stilan "stehlen" zur 4. Klasse gehört. Zu dieser Kategorie gehören: finþan, drigkan (beachte die Aussprache "dring-kan"), hilpan
finþan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
finþiþ
fanþ
funþun
Übersetzung
er findet
er fand
sie fanden
Diese Ablautreihe entspricht dem deutschen i-a-u, z. B. finden - fand - gefunden.
4. Präsensstamm -i-/-aí-
IV. Ablautreihe: i/aí - a - e - ?
Diese Klasse teilt sich die -i-/-aí-Verben mit der 3. und der 5. Klasse. Entsprechend muss die Zugehörigkeit gelernt werden. Zu dieser Klasse gehören: bairan, qiman, Ausnahme: trudan (treten)
qiman
Präsens
Singular
Plural
3. Person
qimiþ
qam
qemun
Übersetzung
er kommt
er kam
sie kamen
Die deutsche Entsprechung ist die Ablautreihe e - a - o, z. B. nehmen - nahm - genommen.
5. Präsensstamm -i-/-aí-
V. Ablautreihe: i/aí - a - e - ?
Diese Klasse unterscheidet sich von der IV. Ablautreihe nur durch den dritten Ablaut. Hierher gehören die Verben: giban, itan, ligan, qiþan, saiƕan, diwan
giban
Präsens
Singular
Plural
3. Person
gibiþ
gaf
gebun
Übersetzung
er gibt
er gab
sie gaben
Die deutsche Entsprechung ist die Ablautreihe e - a - e, z. B. legen - lag - gelegen. Beachte: Die Form von itan ist unregelmäßig: itiþ - et - etun.
6. Präsensstamm -a-
VI. Ablautreihe: a - o - o - ?
Zu dieser Gruppe gehören die meisten Verben mit dem Stammvokal -a-, wie z. B. slahan, faran, standan
slahan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
slahiþ
sloh
slohun
Übersetzung
er schlägt
er schlug
sie schlugen
Diese Ablautreihe entspricht dem deutschen a - u - a, fahren - fuhr - gefahren. Beachte: standan ist wie im Deutschen unregelmäßig: standiþ - stoþ - stoþun.
7. Reduplizierende Verben
Die Vergangenheitsbildung dieser Verbklasse ist im heutigen Deutsch unbekannt, allerdings in anderen idg. Sprachen, z. B. Altgriechisch, belegt. Hierbei wird dem Stamm eine -aí--Vorsilbe hinzugefügt. Der erste Laut oder die ersten beiden Laute (bei st, sk, sp) des Wortstamms wird/werden redupliziert, d. h. wiederholt bzw. verdoppelt, und vor dem Vokal -aí- gesetzt. In Formeln ausgedrückt bedeutet dies (K = Konsonant; V = Vokal):
Aus K1VK2- wird K1aíK1VK2-
Beginnt der Stamm mit einem Vokal, so wird nur ein Aí- davorgesetzt. Zu dieser Klasse gehören: gaggan, slepan
slepan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
slepiþ
saislep*
saislepun
Übersetzung
er schläft
er schlief
sie schliefen
Die deutsche Entsprechung ist die Ablautreihe V1 (meist a) - ie - V1 (meist a), z. B. fangen - fing - gefangen. Im Übrigen soll die Unregelmäßigkeit von tun - tat - getan ein Überbleibsel der Reduplikation sein. Die Vergangenheitsform von gaggan war wahrscheinlich unregelmäßig (siehe unten).
*saislep ist auch als saizlep belegt, vermutlich wird ein s stimmhaft, wenn es zwischen zwei stimmhaften Lauten ist
8. Reduplizierend-ablautende Verben
VII. Ablautreihe: e/ai - o - o - ?
Die Verben dieser Klasse haben den Stammvokal -e-, z. B. tekan. Endet der Wortstamm auf einen Vokal, so wird aus dem -e- ein -ai-, z. B. saian.
tecan
Präsens
Singular
Plural
3. Person
tekiþ
taitok
taitokun
Übersetzung
er berüht
er berühte
sie berühten
Im Deutschen entspricht dies derselben Ablautreihe wie der 7. Klasse, wie z. B. lassen - ließ - gelassen.
Präteritum - Bildung (stark)
Das Präteritum der starken Verben wird im Gotischen mit dem sog. Themavokal "u" gebildet:
qiman
Singular
Plural
1. Person
ik qam ich kam
weis qemum wir kamen
2. Person
þu qamt du kamst
jus qemuþ ihr kamt
3. Person
is qam er kam
eis qemun sie kamen
Das Fehlen eines Zwischenvokals in der 2. P. S. "qamt" führt zu folgenden Unregelmäßigkeiten:
-bt wird zu -ft: giban - þu gaft du gabst
-dt wird zu -st: trudan - þu trast du tratst
-þt wird zu -st: finþan - þu fanst du fandst
-tt wird zu -st: beitan - þu baist du bisst
"sein"
Wisan wird regelmäßig mit der IV. Ablautreihe konjugiert.
wisan
Singular
Plural
1. Person
ik was ich war
weis wesum wir waren
2. Person
þu wast du warst
jus wesuþ ihr wart
3. Person
is was er war
eis wesun sie waren
Substantive
Schwache Deklination
Ähnlich wie im Deutschen hat auch das Gotische eine starke und eine schwache Deklination (vgl. "Ich sehe den Rauch (mask. stark)" und "Ich sehe den Menschen (mask. schwach)").
Schwach Maskulin
Schwach maskuline Nomen enden gewöhnlich auf -a, z. B. Guta "Gote":
Guta
Singular
Plural
Nominativ
Sa Guta
þai Gutans
Genitiv
þis Gutins
þize Gutane
Dativ
þamma Gutin
þaim Gutam
Akkusativ
þana Gutan
þans Gutans
Vokativ
Guta
-
Schwach Neutrum
Schwach neutrale Nomen enden gewöhnlich auf -o, z. B. augo "Auge". Die Endungen stimmen im Genitiv und Dativ wieder mit denen des Maskulin überein.
augo
Singular
Plural
Nominativ
þata augo
þo augona
Genitiv
þis augins
þize augane
Dativ
þamma augin
þaim augam
Akkusativ
þata augo
þo augona
Vokativ
augo
-
Schwach feminin
Die schwach feminine Deklination entspricht der des Maskulinum, jedoch mit dem Unterschied, dass jeder Vokale durch ein "o" ersetzt wurde. Die Nomen enden auf -o, z. B. tuggo "Zunge":
tuggo
Singular
Plural
Nominativ
so tuggo
þos tuggons
Genitiv
þizos tuggons
þizo tuggono
Dativ
þizai tuggon
þaim tuggom
Akkusativ
þo tuggon
þos tuggons
Vokativ
tuggo
-
Adjektive
Schwache Deklination
Auch Adjektive können schwach dekliniert werden, allerdings haben Sie zum Glück dieselben Endungen wie ein schwach-dekliniertes Nomen und müssen deshalb nicht neu gelernt werden. Die schwache Adjektivdeklination wird hauptsächlich nach den Artikel/Demonstrativpronomen angewandt und hat im Übrigen nichts mit der schwachen Substantivdeklination zu tun. D. h.: Ob das Nomen schwach oder stark ist, spielt hier keine Rolle. Steht das Adjektiv nach dem Substantiv oder wird prädikativ gebraucht, so wird es i. d. R. stark dekliniert. Im Deutschen gibt es diese Form ebenfalls: "ein netter Mann" - "der nette Mann".
Kasus
maskulin
neutrum
feminin
Sg. Nominativ
Sa jugga wulfs
þata juggo huzd
So juggo giba
Genitiv
þis juggins wulfis
þis juggins huzdis
þizos juggons gibos
Dativ
þamma juggin wulfa
þamma juggin huzda
þizai juggon gibai
Akkusativ
þana juggan wulf
þata juggo huzd
þo juggon giba
Pl. Nominativ
þai juggans wulfos
þo juggona huzda
þos juggons gibos
Genitiv
þize juggane wulfe
þize juggane huzde
þizo juggono gibo
Dativ
þaim juggam wulfam
þaim juggam huzdam
þaim juggom gibom
Akkusativ
þans juggans wulfans
þo juggona huzda
þos juggons gibos
Sinn dieser Deklination ist es, Dopplungen zu vermeiden: Aus "þos mikilos wardos" wird "þos mikilons wardos" (die großen Wächterinnen).
Satz
Verneinung
Die einfache Verneinung erfolgt mit dem Wort ni "nicht", das man vor dem Verb platziert:
Sa wulfs beitiþ þana hund. Der Wolf beißt den Hund
Sa wulfs ni beitiþ þana hund. Der Wolf beißt den Hund nicht.